Gemeinnützigkeitsrecht – Zulässigkeit von Rücklagen im wirtschaftlichen Geschäftsbetrieb
Bundesministerium der Finanzen
IV C 4 – S-0174 – 2/01
Schreiben (koordinierter Ländererlaß) vom 15.02.2002
AO 1977 § 55 Abs. 1 S. 1,
AO 1977 § 55 Abs. 1 Nr. 5,
AO 1977 § 57,
AO 1977 § 58 Nr. 6,
AO 1977 § 58 Nr. 7;
KStG § 5 Abs. 1 Nr. 9
Der BFH hat mit Urteil vom 15.7.1998, I R 156/94 entschieden, dass
1. eine Körperschaft mit umfangreicher wirtschaftlicher Betätigung bereits dann die Voraussetzung einer in erster Linie selbstlosen Verfolgung steuerbegünstigter Zwecke § 55 Abs. 1 Satz 1 AO) erfüllt, wenn sie den Gewinn des steuerpflichtigen wirtschaftlichen Geschäftsbetriebs – ggf. den nach einer Thesaurierung im Betrieb verbleibenden Rest – für steuerbegünstigte Zwecke verwendet,
2. auch eine beinahe vollständige Thesaurierung des Gewinns des steuerpflichtigen wirtschaftlichen Geschäftsbetriebs über einen längeren Zeitraum hinweg unschädlich für die Gemeinnützigkeit ist, wenn die Körperschaft nachweist, dass der Umfang der Gewinnthesaurierung zur Sicherung ihrer Existenz geboten war,
3. eine selbstlose Förderung der Allgemeinheit auch dann vorliegt, wenn die Körperschaft den Teil des Gewinns, der nicht für die Sicherung der Existenz des Betriebs benötigt wird, nicht zeitnah für ihre steuerbegünstigten satzungsmäßigen Zwecke verwendet, jedoch alsbald nach einer erheblichen Verbesserung der Ertragslage mit Vorbereitungen (Überlegungen) für eine satzungsgemäße Mittelverwendung beginnt,
4. eine Körperschaft, die keine Mittelbeschaffungskörperschaft i. S. des§ 58 Nr. 1 AO ist, das Merkmal der Unmittelbarkeit § 57 AO) als Voraussetzung für die Gemeinnützigkeit auch in den Veranlagungszeiträumen erfüllt, in denen sie sich nur mittelbar gemeinnützig betätigt hat, wenn sie ihre steuerbegünstigten Zwecke in späteren Veranlagungszeiträumen selbst oder durch eine Hilfsperson verwirklicht.
Unter Bezugnahme auf das Ergebnis der Erörterung mit den obersten Finanzbehörden der Länder wird zur Anwendung der Rechtsgrundsätze dieses Urteils wie folgt Stellung genommen:
1. Verbot einer Förderung von in erster Linie eigenwirtschaftlichen Zwecken
Nach § 55 Abs. 1 Satz 1 AO darf eine gemeinnützige Körperschaft nicht in erster Linie eigenwirtschaftliche Zwecke – z.B. gewerbliche Zwecke oder sonstige Erwerbszwecke – verfolgen. Zur Beurteilung der Frage, ob diese Voraussetzung für die Gemeinnützigkeit erfüllt wird, ist zwischen der steuerbegünstigten und der wirtschaftlichen Tätigkeit der Körperschaft zu gewichten. Gibt eine wirtschaftliche Tätigkeit der Körperschaft bei einer Gesamtbetrachtung das Gepräge, ist die Gemeinnützigkeit zu versagen.
2. Bildung von Rücklagen im steuerpflichtigen wirtschaftlichen Geschäftsbetrieb
Es ist grundsätzlich unschädlich für die Gemeinnützigkeit einer Körperschaft, wenn sie einen Teil des Gewinns des steuerpflichtigen wirtschaftlichen Geschäftsbetriebs einer Rücklage im wirtschaftlichen Geschäftsbetrieb zuführt. Die Rücklage muss bei vernünftiger kaufmännischer Beurteilung wirtschaftlich notwendig sein und stets begründet werden. Eine fast vollständige Zuführung des Gewinns zu einer Rücklage im wirtschaftlichen Geschäftsbetrieb ist entsprechend den Ausführungen des BFH nur dann unschädlich für die Gemeinnützigkeit, wenn die Körperschaft nachweist, dass die betriebliche Mittelverwendung zur Sicherung ihrer Existenz geboten war.
3. Rücklagen im gemeinnützigen Bereich – Überlegungsphase
Eine gemeinnützige Körperschaft muss ihre Mittel grundsätzlich zeitnah für die Erfüllung der steuerbegünstigten satzungsmäßigen Zwecke verwenden. Zeitnah ist eine Verwendung bis zum Ende des auf den Zufluss der Mittel folgenden Kalender- oder Wirtschaftsjahrs § 55 Abs. 1 Nr. 5 AO). Ausnahmen von diesem Gebot enthalten die Vorschriften in§ 58 Nr. 6 und 7 AO zur Bildung von Rücklagen im gemeinnützigen Bereich. Sie gelten, wie das Gebot der zeitnahen Mittelverwendung, nur für den Teil des Gewinns, der nach der Zuführung zu Rücklagen im wirtschaftlichen Geschäftsbetrieb für die Förderung steuerbegünstigter Zwecke zur Verfügung steht.
Die Frist des § 55 Abs. 1 Nr. 5 AO für die zeitnahe Verwendung von Mitteln kann nicht mit der Begründung verlängert werden, die Überlegungen zur Verwendung der Mittel seien noch nicht abgeschlossen. Auch die Bildung einer Rücklage nach § 58 Nr. 6 AO kommt mit einer solchen Begründung nicht in Betracht. Nach § 58 Nr. 6 AO darf eine gemeinnützige Körperschaft ihre Mittel ganz oder teilweise einer Rücklage zuführen, soweit dies für die nachhaltige Erfüllung ihrer steuerbegünstigten satzungsmäßigen Zwecke erforderlich ist. Die Rücklagenbildung ist nur zulässig, wenn die Mittel für bestimmte – die steuerbegünstigten Satzungszwecke verwirklichende – Vorhaben angesammelt werden (siehe Anwendungserlass zur AO, zu § 58 Nr. 6 Rdn. 9).
4. Jahresprinzip
Über die Steuerbefreiung nach § 5 Abs. 1 Nr. 9 KStG, die die Anerkennung der Gemeinnützigkeit bedeutet, ist stets für einen bestimmten Veranlagungszeitraum zu entscheiden (Grundsatz der Abschnittsbesteuerung). Eine Körperschaft kann nur dann nach dieser Vorschrift von der KSt befreit werden, wenn sie in dem zu beurteilenden Veranlagungszeitraum alle Voraussetzungen für die Gemeinnützigkeit erfüllt. Die spätere Erfüllung einer der Voraussetzungen für die Gemeinnützigkeit, z.B. des Merkmals der Unmittelbarkeit § 57 AO) kann nicht auf frühere, abgelaufene Veranlagungszeiträume zurückwirken.
Soweit die Rechtsgrundsätze des BFH-Urteils vom 15.7.1998 im Widerspruch zu diesen Verwaltungsanweisungen stehen, sind sie über den entschiedenen Einzelfall hinaus nicht anzuwenden.